Es lebe der Lippenstift: Wie Frankfurts Frauen dem globalen Trend trotzen

2022-10-26 10:52:58 By : Ms. Dana Chen

Um 49 Prozent ist der Lippenstift-Absatz seit letztem Jahr weltweit eingebrochen. Wozu Lippenstift benutzen, wenn die pinke oder rote Pracht die Maske verschmiert und sie sowieso keiner sieht? Logisch, könnte man meinen. In Frankfurt und Umgebung tickt die weibliche Bevölkerung jedoch offensichtlich anders: Heerscharen von Frauen trotzen hier, im Herzen von Europa, der globalen Lippenstift-Entsagung. Ohne Lippenstift? Wegen Corona? Wir? Niemals!

Frankfurterinnen und ihr Lippenstift – die beiden kann so schnell nichts trennen. Nicht mal eine Pandemie. „Frauen, die jetzt keinen Lippenstift mehr tragen, haben ihn nur für andere getragen“, platzte es vor ein paar Tagen aus einer Freundin heraus. „Ich jedenfalls“, eröffnete sie mir unmissverständlich, „ICH trage meinen Lippenstift nur für mich.“ Dass ich persönlich Lippenstift benutze, um hübscher auszusehen, scheint in ihren Augen ein bodenloser Verrat am weiblichsten aller Schmink-Utensilien.

„Der Lippenstift gehört zu mir als Frau“, funkelt sie mich an. „Ich identifiziere mich mit ihm. Der Lippenstift ist der Inbegriff meiner Weiblichkeit. DAS lass ich mir doch durch die Maske nicht nehmen!“ Unhygienisch unterm Stoff? Unsinnig ohne Signalwirkung? Papperlapapp! Es gebe nun mal die Frauen, für die der Lippenstift zur Persönlichkeit gehöre. Und andere, die den Lippenstift nur zur Schau stellten. Punkt. Keine Frage, welche der beiden Lippenstifttypen das echte, das wahre Weib verkörpert.

„Ich kaufe mir nur Masken, die die Lippen nicht berühren. Da muss man halt lange suchen!“, führte sie mir vor Augen, wie unweiblich ich bis dato die Prioritäten beim Maskenkauf gesetzt hatte: Nicht die Passform, sondern originelle Motive, ob beim Bäcker, im Lottoladen oder den Schaufenstern der Boutiquen, zogen mich magisch an. Sogar vor schlaffen Stoffläppchen mit lustigen Sprüchen, die mich aus einem Bauch­laden auf der Zeil heraus anlachten, schreckte ich nicht zurück, und ich erstand vier zum Preis von drei. Beim Anprobieren zu Hause wurde mir vor lauter Chemiegestank schlecht. Nicht der einzige Masken-Fehlkauf. Hätte ich doch auf die Passform geachtet!

Statt Lippenstift wählte ich Morgen für Morgen vorm Spiegel eine Maske passend zum Outfit aus: knallig oder frech, dezent oder elegant. Mit Sonnenblumen, Spielkarten oder Skyline, Pailletten, Pferden oder Papageien. Wer will ich heute sein, wie fühle ich mich? Die Maske als modisches Statement, wenn ich schon meine Lippen nicht zeigen darf. Für Frauen mit einfallslosen OP-Masken hatte ich nur ein müdes Lächeln übrig. Heute fürchte ich, dass sie unter ihrer Maske insgeheim über mich lächelten – mit herrlich roten Lippen!

Seit der medizinischen Maskenverordnung sind meine Stofflappen, für die ich ohne mit der Wimper zu zucken zwischen sechs und 26 Euro bezahlt habe, klammheimlich in der untersten Schublade verschwunden. Meine liebe Freundin hingegen jubiliert: Die obligatorischen FFP2-Atemschutzmasken seien geradezu ideal, um Lippenstift zu tragen, schwärmt sie. Gerade habe sie sich wieder zwei tolle Lippenstifte im Netz bestellt.

Kein Einzelfall. „Lippenstift lass ICH mir durch Corona doch nicht verbieten!“, stellte eine junge Kollegin kürzlich klipp und klar. Meine naiven Bedenken, dass eine verschmierte Maske, länger getragen, sich in ein lebendes Biotop vor Mund und Nase verwandeln könnte, wischte sie nonchalant und allwissend beiseite: „Natürlich verwende ich ausschließlich liquid Lipstick! Der trocknet schnell und färbt nicht ab.“ Wieder was gelernt.

Im Telefonat mit meiner Kosmetikerin, die ihren Salon in der City hat, erfahre ich von einer Kundin, die ohne ihren leuchtend roten Lippenstift „Mon Rouge“ von Paloma Picasso nicht weiterleben konnte. Als die Produktion der Kult-Farbe vor ein paar Jahren eingestellt wurde, ließ sich diese Dame kurzerhand die Lippen in ebendiesem Knallrot pigmentieren. Seit Corona, so die Kosmetikerin meines Vertrauens, ist die Warteliste für dauerhaftes Lippen-Make-up endlos: „Ist doch ganz logisch: Frauen wollen strahlende und gepflegte Lippen, wenn sie die Maske absetzen.“

Dass die Lippenstift-Leidenschaft in Frankfurt viel stärker ist als das vermeintliche Masken-Diktat, wurde mir endgültig im Gespräch mit einer erfolgreichen Unternehmerin aus dem Westend klar: „Selbstverständlich trage ich Lippenstift, wenn ich vor die Tür gehe“, rief sie im Brustton der Überzeugung aus. „Seit Corona spielt sich das gesellschaftliche Leben draußen ab. Man trifft ja überall Menschen: an den Straßenecken, oder dem mobilen Kaffeestand am Grüneburgpark. Lippenstift ist genauso wichtig wie immer.“ Mit den nötigen zwei Metern Abstand, meinte sie, könne man sich ja auch ohne Maske miteinander unterhalten. Aber um Gottes Willen doch nicht ohne Lippenstift.

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